News
Design und Demokratie

Das Projekt "Mehr alles" macht die Diversität von Migranten-Milieus medienübergreifend erfahrbar.
19/02/2025
"[…] Demokratie ist nicht dasselbe wie die Diktatur der Mehrheit."
"Eine Demokratie ist […] ein dezentrales Informationsnetzwerk mit starken Selbstkorrekturmechanismen."*
Der öffentliche Diskurs über Migration ist hoch emotional. Den wirtschaftlichen Notwendigkeiten von Zuwanderung sowie Gerechtigkeits- und Verantwortungsdebatten stehen Ängste gegenüber, z. B. vor "Überfremdung", Gewalttaten oder sozial prekären Wohngegenden. Es gibt viele verschiedene wissenschaftliche Perspektiven auf diese Konflikt-Arenen. Diese erhalten jedoch weder in den klassischen noch in den sozialen Medien eine angemessene Präsenz.
Zu den Aufgaben der Hochschulen in Bayern gehört neben Lehre und Forschung auch die Wissenschaftskommunikation – mit der Aufgabe, wissenschaftlich geprüfte Fakten in den öffentlichen Diskurs einzubringen (BayHIG Art. 2 (2)). Innerhalb der Disziplin Design beschäftigt sich das Kommunikationsdesign mit der Kommunikation von Inhalten, die aufgrund ihrer Sperrigkeit, Komplexität oder Unattraktivität schwer zu vermitteln sind. Das Projekt Mehr Alles ist aus einem Studierendenprojekt der Fakultät für Design der HM in Zusammenarbeit mit dem Integrationsrat der Stadt Köln entstanden.
Im Rahmen des Projekts wurden die komplexen Inhalte zweier wissenschaftlich fundierter Arbeiten in zugänglichere Formate durch die Transferstärke des Designs "übersetzt" und erfahrbar gemacht. Die wissenschaftlichen Grundlagen sind:
Die Sinus Migranten-Milieu-Studie (2020)
In der Soziologie bezeichnet man mit Milieus Menschengruppen mit gemeinsamen Wünschen, Werten und Lebensweisen. Die Sinus-Milieu-Studie untersucht den sozialen Status und die Lebenseinstellungen verschiedener Gesellschaftsmilieus. Alle Milieus zeichnen sich durch bestimmte Kernwerte aus.
Die Migranten-Milieu-Studie untersucht – auf Basis des Sinus-Milieu-Modells –, welche Milieus es innerhalb der Menschen mit internationalem Familienhintergrund in Deutschland gibt. Die Untersuchung zeigt zum einen, dass Milieus prägender sind als die ethnische Herkunft und zum anderen, dass Menschen mit internationalem Familienhintergrund in Deutschland keine einheitliche Gruppe bilden, sondern genauso in Milieus gegliedert sind wie die deutsch-deutsche Gesellschaft.
Daniel Kahneman (2019): "Schnelles Denken, langsames Denken"
Der Psychologe und Nobelpreisträger für Wirtschaft, Daniel Kahneman, ist durch seine Arbeiten über Verhaltensökonomik, Urteilsheuristiken, kognitive Verzerrungen und Framing-Effekte bekannt. In seinem populärwissenschaftlichen Buch "Schnelles Denken, langsames Denken" verdichtet er auf 568 Seiten wichtige wissenschaftliche Erkenntnisse seiner Forschung.
Durch eine medienübergreifende Kommunikation in Film, Illustrationen, Website und Plakat wurden diese Inhalte für die Arbeit des Integrationsrates aufbereitet. Für die Interaktion mit Polizei, Behörden, Schulklassen oder Medien konnten so wissenschaftliche Inhalte für Diskurse zugänglicher gemacht werden. Die vereinfachte Sichtweise von "den Deutschen" und "den Migranten" verstellt den Blick auf die differenzierte Alltagswirklichkeit der Menschen in den verschiedenen Milieus. Behörden oder Medien bemerken häufig ihre eigenen Biases/Vorurteile nicht.
Das Konzept "Mehr Alles" spielt mit den Wertemustern der jeweiligen Milieus. Die Menschen aus jedem Milieu haben Kernwerte, die sie in die Gesellschaft einbringen und damit die Gesellschaft prägen und ein "Mehr" erzeugen. "Mehr Alles" spielt mit einem Augenzwinkern damit, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Vielfalt der Gesellschaft ein persönliches "Update" des eigenen Denkens und Wahrnehmens ist. Die Arbeit will Probleme nicht ausklammern – vielmehr geht es darum, Proportionen aufzuzeigen und Perspektiven differenzierter zu machen. Dabei sollte jedoch keine simple "Multi-Kulti-Romantisierung" durch wissenschaftliche Fakten entstehen, sondern Interkulturalität als eine der großen gegenwärtigen und zukünftigen Herausforderungen der Demokratien begreifbar gemacht werden.
Sowohl in Deutschland als auch international stehen die Themen Zuwanderung, Kultur und Identität großen Problemen und Spannungen aber auch Potenzialen und Möglichkeiten gegenüber. Diese Wir-Sie-, Innen-Außen- oder Oben-Unten-Ungleichheitskonflikte lassen sich jedoch weder durch Sofortismus noch durch monokausale Ursachenzuschreibung zufriedenstellend lösen.** "Mehr Alles" gibt keine Antwort darauf, was politisch "richtig" oder "falsch" ist; es will den gesellschaftlichen Diskurs zu Migration durch wissenschaftliche Modelle differenzieren und somit den Diskurs und die Demokratie stärken.
* Yuval Noah Harari (2024): Nexus. Eine kurze Geschichte der Informationsnetzwerke von der Steinzeit bis zur künstlichen Intelligenz, Penguin Verlag, München, S. 185, S. 183
** Vgl. Steffen Mau, Thomas Lux, und Linus Westheuser (2023): Triggerpunkt. Konsens und Konflikte in der Gegenwartsgesellschaft, Edition Suhrkamp, Berlin
Die Arbeit wurde von Prof. Ben Santo betreut und ist aus dem Seminar "Interkultur" in Zusammenarbeit mit dem Integrationsrat der Stadt Köln an der Hochschule München Fakultät für Design entstanden. In der finalen Umsetzung waren wichtige weitere externe Projektpartner beteiligt.
Barbara Piontek
Marcel Ströter
Alexander Lehmann und Lena Schall
Tayfun Keltek, Vorsitzender des Integrationsrat Köln und Vorsitzender Landesintegrationsrat Nordrhein-Westfalen
Andreas Vetter, Projektleitung und ehem. Geschäftsführung Integrationsrat Köln

